Schöne Augen sind nicht alles

Es ist die bekannteste Erzählung E.T.A. Hoffmanns und einer der am häufigsten im Deutschunterricht gelesenen Geschichten – „Der Sandmann“. Der für seine skurril-schönen Inszenierung beim Freiburger Publikum bekannte Stef Lernous inszenierte diesen inhaltlich sehr anspruchsvollen Stoff am Theater Freiburg.

Alpträume und Visionen können Menschen nachhaltig in ihrer Psyche und täglichen Herangehensweise verändern. So auch den Hauptcharakter in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“, dessen Vater fast täglich Besuch von einem gewissen Herr Coppelius bzw. Wetterglashändler Coppola erhält, um mit diesem alchemistische Versuche durchzuführen. Was ihm jedoch sein Kindermädchen kurz vor dem Schlafengehen jedes Mal erzählt, wenn dieser Mann zu ihnen kommt, löst in ihm ein Gefühl aus, welches er ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verdrängen kann – das Gefühl der Angst, dass dieser Mann ihm früher oder später auch seine Augen stehlen und erblinden lassen möchte und ihm somit beim Hinabgleiten in den Wahnsinn hilft.

Mehr kann man zu dieser Erzählung nicht sagen, ohne groß mehr von dessen Inhalt verraten zu wollen. Hoffmanns Geschichte über die Angst eines Jungen und dessen sich im Laufe der Erzählung immer mehr ausartenden Wahnsinns ist längst ein Klassiker der Schwarzen Romantik und stellt jeden Theaterregisseur immer vor eine gewisse Hürde. So auch den Belgier Stef Lernous, der schon bereits dreimal am Theater Freiburg inszenierte und auch mit dieser Version dieses literarischen Meisterwerks vollends zu überzeugen weiß. Dies beginnt schon bei seiner Grundidee, die Geschichte nur durch den Hauptcharakter Nathanael sprechen zu lassen und mit den handelnden Darstellern drumherum mit weiterem Verlauf des Stückes immer mehr sowohl sein Traumata als auch sein Abdriften in die Tiefen des Wahnsinns zu repräsentieren. So wird Nathanael als Hausmeister dargestellt, der beim Aufräumen des Hauses dem Publikum von seinem Trauma, welches ihn in seiner Kindheit ereilte, erzählt und somit direkt die vierte Wand zum Publikum durchbricht – ein cleverer und genialer Schachzug des Regisseurs, um damit den Zuschauer direkt Teil der Geschichte werden zu lassen.

Schauspielerisch weiß Lernous wie bei seinen bisherigen Inszenierungen am Theater Freiburg auch, wie er seine Figuren und Charaktere einzusetzen bzw. zu inszenieren hat. Dies wird vor allem deutlich an Moritz Peschke, der in diesem Stück den Protagonisten schockierend gut verkörpert und dessen darstellerischer Abstieg in den Wahnsinn sehr glaubwürdig erscheint. Dies erkennt man vor allem an dem wohl besten Ende eines Theaterstücks, welches Lernous je in Freiburg kreiert hat: Ein auf einem Stuhl, welcher den Kirchturm in der Geschichte inszenieren soll, stehender Nathanael, der von grellem Licht geblendet einen markerschütternden Schrei auslöst und in der hinabsteigenden Jalousie verschwindet. Dies und die gesamte von Peschke durchgeführte Charakterstudie zeigt, wie sehr man zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Liebe und Wahnsinn, vor allem aber zwischen der eigenen Psyche und der gerade stattfindenden Realität hin und hergerissen sein kann und wie schwer es ist, diesem Teufelskreis zu entkommen. Dass man dabei nicht an den großen Sigmund Freud vorbeikommt, wirkt so skurril wie selbstverständlich, so bezeichnete er damals das Stück in einem seiner großen Werke „Das Unheimliche“ als eindrucksvolles Beispiel über den Versuch, Kindheitstraumata aus seinem eigenen Kopf zu verdrängen und das stetige Abgleiten in den Wahnsinn.

Lässt den Zuschauer mit seiner Darstellung des Nathanael Teil der Geschichte werden: Moritz Peschke (rechts) / Foto: Marc Doradzillo

Neben dessen wird auch eines der für Hoffmann wichtigsten Motive für dieses Stück klar und deutlich in Lernous‘ Inszenierung aufgezeigt: das Feuer – sei es durch mehrere Kurzschlüsse am Stromkasten, die Lampen, die aufhören zu brennen oder der Feuerofen, in den Nathanael immer wieder den ganzen Dreck hineinwirft, der sich in der Mitte ansammelt. Darin hingegen lässt sich eine weitere inszenatorische Stärke von Lernous erkennen: sein schwer zu übersehendes Gespür für Bildgewalt. Wie auch im Buch selbst lässt er hier die nebenher auftretenden Figuren dem Publikum, welches hier dem Leser gleichgesetzt wird, Bilder erzeugen, die sich fest ins Gedächtnis einbrennen und wie der bereits erwähnte Teufelskreis wirken soll. Es sind Bilder, die sich jedoch nicht nur einbrennen, sondern dem Zuschauer nicht mehr entziehen, so stark sprechen sie für sich und die Geschichte von Nathanael selbst. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diese Inszenierung noch nachhaltig in Erinnerung des Freiburger Publikums bleiben wird – nicht nur wegen der Zeitlosigkeit seiner literarischen Vorlage, sondern vor allem als dramatisches sowie theatralisches Abziehbild der menschlichen Psyche. Schöne und erstaunte Augen inklusive.

 

Weitere Vorstellungen von „Der Sandmann“ am Theater Freiburg: 26.01.2020/01.02.2020/04.02.2020/09.02.2020