Mit der Macht gefangen

Was wenn man eigentlich nur eine kleine Feier veranstaltet und nach einer bestimmten Zeit daran gehindert wird, wieder in die eigenen Räumlichkeiten zurückzukehren? Genau dieser Frage stellen sich die Charaktere in Blanka Rádóczys Inseznierung von Luis Buñuels „Der Würgeengel“, die am vergangenen Freitag im Theater Freiburg seine Premiere feierte. 

Es war ein langer Abend und trotzdem lässt es sich Nobile nicht entgehen, die soeben im Opernstück bewunderte Leticia und fünf weitere Leute nach dem Stück selbst zu sich nach Hause einzuladen, um für die kleine geschlossene Gesellschaft doch noch ein paar Stunden zu singen. Von diesem einen Lied “ Es gibt kein Entkommen“ jedoch können die Gäste nicht genug bekommen, vor allem der Gastgeber selbst ist vollends begeistert davon! Als alle immer müder werden, lädt Nobile die Gäste und die Sängerin ein, bei sich zu übernachten – so weit, so gut. Als jedoch am Morgen darauf jeder aufbrechen will, gelingt dies ihnen aus unbestimmten Gründen nicht. Irgendjemand scheint sie festzuhalten. Je länger sie dieser Situation nun ausgesetzt sind, desto mehr verlieren sie die Nerven und hinterfragen die Gesellschaft.

Wenn Dalí noch leben würde, würde er dieses Stück lieben! Die junge ungarische Theaterregisseurin Blanka Rádóczy, die bereits Filme von Ingmar Bergman und Pier Paolo Pasolini auf die Bühne brachte, beweist mit ihrer Inszenierungspremiere am Theater Freiburg, dass auch Surrealismus in Zeiten von Wut und Wahn als dramatisches und künstlerisches Element nicht zu vernachlässigen ist und in diesem Bereich problemlos funktionieren kann. Dies beginnt bereits beim von der Regisseurin gestalteten und sehr schlicht gehaltenen Bühnenbild, welches zwar, wie im Film auch, offen gestaltet ist, für die Protagonisten aber keinen einzigen Ausweg darstellt – und dies trotz der Tatsache, dass ihnen eigentlich sprichwörtlich alle Türen offen stehen. Jeder Versuch, auch nur ansatzweise aus Nobiles Haus herauszukommen, wird mental von einer unbekannten Macht verhindert. Ein weiteres Plus hier ist die Musik. Sie spiegelt die immer stärker werdende Nervenentgleisung der Charaktere auf sehr sensible Art und Weise wieder und wird nur in ganz wenigen Szenen, dafür aber sehr effizient und geschickt eingesetzt. Gerade das am Anfang erwähnte Lied „Es gibt kein Entkommen“ schwebt mit dem ersten Mal, als es von Leticia vorgetragen wird, über der ganzen Handlung und zieht sich wie ein roter Faden durch ebendiese. Nicht nur dies verleiht dem Stück in den knapp anderthalb Stunden Laufzeit seinen nie wirklich enden wollenden Spannungsbogen, bei dem es Rádóczy zu verstehen weiß, ihn nie zu brechen. Gerade auch als Nobile am Anfang die Wohnung auf Vordermann bringt und währenddessen der Radio kaputt geht wird dem Zuschauer, dass dieses Stück keine realen Züge nehmen wird.

Stefanie Mrachacz und Tim Al-Windawe in „Der Würgeengel“ / Bild: Laura Nickel

Die schauspielerische Leistung bei diesem Stück ist in allen Teilen ausnahmslos hervorragend! Gerade Michael Witte, der den am Anfang noch kerngesunden, mit der Zeit aber immer mehr kränkelnden Christiano spielt, sticht aus dem großartig besetzten Stück ein wenig heraus, da er im Verlauf der Inszenierung das verkörpert, was ein wenig sinnbildlich für die heutige Politik steht – Menschen, die zwar eigentlich ganz klug im Kopf sind, jedoch die Realität immer mehr aus den Augen verlieren und das eigene System somit erkranken lassen. Ebenfalls stark hervorzuheben ist – wieder einmal – Angela Falkenhan als Frau Doktor. Ihr zu Beginn bewusst sowie gewohnt statisches Spiel entwickelt sich im Laufe des Stückes zu einer Darstellung, die weit über ihr Können hinausgeht. Sie zeigt uns mit ihrem Charakter, dass der anfänglich nicht vorhandene Zweifel immer mehr in Erscheinung tritt, wenn man ihm nur genug Zeit zum Gedeihen gibt. Allgemein kann zur Darstellerriege gesagt werden, dass hier Figurenentwicklungen gezeigt werden, die man so nur aus Kammerspiel-Klassikern wie „Cocktail für eine Leiche“ von Alfred Hitchcock, „Der Gott des Gemetzels“ von Roman Polanski oder „Die 12 Geschworenen“ von Sidney Lumet kennt. Dieses Stück mit diesen Meisterwerken zu vergleichen ist zwar gewagt, jedoch bei der Betrachtung, wie stark die Charaktere geschrieben sind, stets nachvollziehbar. Man versucht so lange, eine Situation auszusitzen, bis man dem Ganzen sukzessive auf den Grund und zu einem für den Zuschauer völlig unerwarteten Ende kommt – auch wenn die Nerven am Ende komplett blank liegen. Das Buñuel 1962 mit seinem meisterlichen Film den Surrealismus als einer der ersten Filmemacher überhaupt auf die Leinwand brachte und dies nun als Theaterstück den Weg nach Freiburg gefunden hat zeigt, dass der oft fehlende Hang zur Realität bei bestimmten Menschen in der heutigen Gesellschaft gerade in der heutigen Zeit wichtiger denn je ist, um deren Schwachpunkte sowie Nerven zu treffen. Blanka Rádóczy ist dies mit ihrer Inszenierung von „Der Würgeengel“ auf – inszenatorische wie künstlerische Art und Weise – beeindruckend wie ausgezeichnet gelungen!