Kapital ist (nicht) alles, was man braucht

Brecht und Weill haben schon einige bedeutende Stücke wie „Die Dreigroschenoper“ auf die Bühnen der Welt gebracht. Zu ihnen zählt auch das thematisch und literarisch nicht unwichtige Libretto „Die 7 Todsünden“. Das dies jedoch auch wunderbar mit einem Schauspiel verbunden werden kann und das Wichtigste dabei nicht verloren geht, zeigt die Inszenierung von Kornél Mundruczó, in dem er Brechts und Weills Werk mit „Motherland“ von Katá Weber zusammen inszeniert. 

Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Trägheit – die aus der Bibel bekannten Todsünden begleitet einen jeden Menschen in seinem irdischen Dasein. Brecht und Weill haben sich derer angenommen und die Geschichte in das Mississippi des 20. Jahrhunderts verlagert. Hier bekommen wir es mit der Geschichte von Anna I, ihres Zeichens Managerin, und Anna II, welche als Künstlerin tätig ist, auf ihrer Reise durch 7 Städte der Vereinigten Staaten zu tun. Während Erstgenannte nach stets nach Optimierung und Anpassung an die globale Gesellschaft strebt, so lebt die Schwester ihr Leben nach mehreren Todsünden wie vor allem Faulheit, Lust, Stolz und Zorn. Und dies nun mit einem modernen Schauspiel kombinieren? Das soll wirklich funktionieren? Ja, tut es wirklich! Denn wie wir alle wissen, ist die Oper nichts anderes als eine Kombination aus Schauspiel und Gesang, warum also nicht das Wagnis eingehen, ein Werk zweier Jahrhundertkünstler mit einem Drama um eine Mutter und ihrer Tochter zu verknüpfen?

Hier zeigt sich die inszenatorische Stärke von Kornél Mundruczó, der in der Opern- und Filmbranche u.a. durch seine Filme Delta (2008) und Underdog (2014) kein unbeschriebenes Blatt ist – so konnte er mit seinen bisherigen Werken unter anderem schon in Cannes, Avignon, Wien oder auch Adelaide stark auf sich aufmerksam machen. Diese Arbeit blieb auch in Freiburg nicht unbemerkt und so konnte man sich dieses Genie, das im Stück selbst für ein paar Sequenzen selbst die Kamera führt, für ein wahrliches Mammutprojekt wie dieses gewinnen! In „Motherland“ nach Katá Weber geht es um eine Mutter, die ihre Tochter mit teils sehr drastischen Mitteln zur Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb zwingt – dabei wird auch nicht vor Extensions, Botox und für ein Mädchen solchen Alters untypischen Shakes zurückgeschreckt. Die beiden Hauptdarstellerinnen in diesem Stück, Nora Buzalka und Sinja Neumann, zeigen dieses aufgrund der Trennung der Mutter von ihrem Mann stark zerrüttete Verhältnis zueinander auf erschreckend glaubwürdige, aber auch nachdenkliche Art und Weise. Vor allem die Energie und der Hass, den Buzalka ihrer Figur verleiht und der ebenfalls herausragenden Jungdarstellerin Neumann, zeigt, wie man eine solche Figur für eine sehr kurze Laufzeit (ca. 85 Minuten) zu inszenieren hat. Man möchte bei jeder Handlung und Tat der Mutter stets auf die Bühne springen und das Mädchen ihr entreißen, um Schlimmeres zu verhindern, so real ist ihre Verkörperung der Figur. Sie zeigt, wer die Frau im Haus ist und die Macht über ihr eigenes Kind und deren Leben hat. Das die Darstellung von Mutter und Tochter in Zeiten des Zwielichtes so realistisch rüberkommt, dazu trägt auch die stark bedrückende und belastend wirkende Musik, bei der sich Mundruczó stark an die Machweise in der Filmindustrie, allen voran im Genre des Psychothrillers, bediente. Denn die Symbiose der beiden Protagonistinnen – und dies merkt man in jeder Sekunde von „Motherland“ – ist stark von psychischen Belastungen und inneren Konflikten der beiden geprägt. Sie erinnert stark an Filme wie „Wind River“ oder „Der Leuchtturm“ – Werke, in denen die Hauptcharaktere ebenfalls mit inneren Dämonen dem „Feind“ gegenüber zu kämpfen haben. Der Unterschied zwischen „Motherland“ und den beiden genannten Streifen ist jedoch der, dass die Szenen an Kraft und Intensität nicht zu übertreffen sind und uns zeigen, wie stark eine menschliche Bindung zwischen Mutter und Tochter sich zum Schlechten wenden kann.

Überragen in ihren Rollen als seelisch getrennte Mutter und Tochter: Nora Buzalka (rechts) und Sinja Neumann (vorne)

Der Libretto-Teil „Die Sieben Todsünden“ zeigt beide Annas auf ihrem Weg durch sieben Städte in sieben US-Bundesstaaten und ihre vier mentalen Begleiter – dargestellt von Roberto Gionfriddo, Junbum Lee, John Carpenter und Jin Seok Lee. Diese Begleiter scheinen die Protagonistin durch den sehr eindringlichen Text von Brecht immer wieder daran erinnern zu wollen, was wir ihr als Publikum immer wieder sagen wollten: „Bitte liebes Mädchen, weiche nicht vom Weg ab – falls doch, mach das Beste daraus!“. Das der Text von Brecht dies nie garantiert, zeigt auch, wie realitätsnah er ist. Er erzählt uns von unerfüllten Idealen, denen ein Mensch nachjagt, in diesem Sinne Anna II, die alles versucht und nichts unerprobt lässt, um als Künstlerin erfolgreich zu sein. Die Todsünden verstärken dieses Gefühl umso mehr, denn je länger man Anna II bei ihren Versuchen zusieht, desto mehr scheint sie durch die großartige musikalische Untermalung unter der Leitung von Ektoras Tartanis an ihren gesetzten Idealen zu zerbrechen – auch wenn sie Anna I und die vier Begleiter immer wieder auf’s Neueste davor warnen. Doch hat der Text von Brecht auch seine Unterhaltsamkeit, so wirkt die Musik von Weill in weiten Teilen – auch durch die Darstellung und den großartigen wie eindringlichen Gesang der vier Sänger des Theaters – sehr beschwingt und erfreulich die Szenen komödiantisch sehr hochwertig und führt den Zuschauer mit dem Gefühl der Lust und Freude stets in die Irre, ohne das dieser es überhaupt ahnt. Dabei werden Werte der Kapitalsorten nach Pierre Bourdieu vor Augen geführt und infrage gestellt. Je länger das Stück dauert, desto mehr verliert Anna II an sozialem Kapital und desto mehr gewinnt Anna I an ökonomischem Kapital. Das kulturelle Kapital wird uns in dieser Inszenierung allen voran durch die Zeilen von Brecht sehr beeindruckend wie erschreckend dargelegt. Kapitalverlust in einer Gesellschaft, die nach Optimismus strebt – ein Thema, mit welchem wir uns immer wieder aufs Neueste auseinandersetzen müssen. Die Kombination von „Die Sieben Todsünden“ und „Motherland durch Mundruczó hat dies eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

 

„Die Sieben Todsünden/Motherland“ wird auch in der kommenden Spielzeit 2020/21 am Theater Freiburg zu sehen sein!