Eine Uni für die goldene Generation – Erasmus an der Gülen-Universität

Als ich die Fatih Üniversitesi am Rande von Istanbul zum ersten Mal betrat, fiel mir vieles auf. Die Security am klotzigen Haupteingang zum Beispiel, an der ich nur mit meinem unschuldigsten Erasmus-Lächeln ohne „Fatih Card“ vorbei kam. Das durchchoreographierte Gebäudeensemble, neben dem das Freiburger KG III vor Neid gleich noch grauer würde. Das riesige Logo am Rektoratsgebäude, auf dem ein geschwungener Baumstamm die fünf Kontinente als seine Krone trägt, darunter der Slogan „eine Welt Universität“. Was ich von außen nicht sehen konnte, war dass die Universität eine der größten von der Gülen-Bewegung betriebenen Bildungseinrichtungen der Türkei war.

Die Gülen-Bewegung ist eine religiöse Bewegung, die von den muslimischen Lehren des türkischen Predigers Fethullah Gülen inspiriert ist. An der Fatih Üniversitesi studierten  Absolvent*innen von Gülen-inspirierten Schulen aus der ganzen Welt mit mir, gefördert durch Stipendien der Bewegung. Auch der schöne Campus mit Blick auf einen See war großzügigen Spendern der Bewegung zu verdanken. Und die Security, die konnte wohl nur zusehen, als die Universität acht Tage nach dem Putschversuch vom 15. Juli von der türkischen Regierung geschlossen wurde.

 

Ethik für eine bessere Welt

 

Alle rund 300 Gülen-inspirierten Schulen in der Türkei mussten nach dem Putschversuch ihren Unterricht einstellen. Die Gülen-Bewegung betreibt fast überall auf der Welt Bildungseinrichtungen.  Dazu zählen Schulen, Internate und Nachhilfeinstitute. Auch in Deutschland hat die Bewegung durch solche Angebote vor allem Schüler*innen mit türkischem Migrationshintergrund einen Schulabschluss ermöglicht, die im staatlichen Schulsystem durch die Maschen fielen.

Bildung ist besonders seit den 1980er-Jahren der Kern der Lehren Fethullah Gülens. Nur durch Bildung könne eine „goldene Generation“ heranwachsen, die Glauben und islamische Ethik mit Wissenschaft und Technik vereint. Diese goldene Generation aus moralisch rechtschaffenen Menschen könne für eine goldene Zukunft sorgen, die momentane Probleme der muslimischen Welt, aber auch den reinen Materialismus der westlichen Welt überwindet. Bildung im Sinne Gülens muss also einerseits islamische Ethik als universale Ethik vermitteln, da nur der (muslimische) Glaube das moralisch Richtige am Beispiel des Propheten Muhammeds als moralisch vollkommenen Menschen aufzeige. Andererseits sind Wissenschaft und Bildung ebenso wie ein moderner Islam notwendig um die Probleme der Welt zu lösen. Durch Bildung soll die islamische Ethik eine praktische Ethik werden. Diese praktische Ethik verstehen die Gülen Anhänger*innen als  Dienst an den Menschen, auf Türkisch „hizmet“. Deswegen bezeichnet sich die Bewegung selber auch als „Hizmet“-Bewegung.

 

 

Die Fatih Üniversitesi als Ausbildungsstätte einer goldenen Generation basierend auf islamischen Werten?  Von solchen Ambitionen meiner Gastuniversität bekam ich kaum etwas mit. Mehr noch, vielleicht hätte ich überhaupt nicht gemerkt, dass die Uni der Gülen-Bewegung angehört, hätte ich es nicht schon vorher gewusst. Zugegeben, der Anteil kopftuchtragender Frauen war auf dem Campus schon deutlich höher als auf Istanbuls Straßen. Trotzdem schien mein Unialltag frei von religiöser Agenda zu sein. Vonseiten meiner Mitstudierenden kamen höchstens einmal schüchterne Fragen über Deutschland, niemals aber Einladungen zu religiösen Treffen, wie mir ein türkischer Bekannter vorausgesagt hatte. Meine Dozierenden hatten verschiedene politische Hintergründe, vom eher konservativen Verklärer des osmanischen Reiches bis hin zur linken Gezi-Park Aktivistin. Von der Gülen Bewegung sprach fast niemand.

Kristina Dohrn von der Freien Universität Berlin überrascht das wenig. Die Sozial- und Kulturanthropologin forscht seit fast 10 Jahren zur Gülen-Bewegung und beschäftigt sich in ihrer Promotion mit Bildung und Ethik an einer Gülen-inspirierten Mädchenschule in Tansania. Sie stellte fest, dass Bildungseinrichtungen, die von den Lehren Gülens inspiriert sind, diesen Bezug nicht immer deutlich machen. Auch spielten Religion und Gülens Ideen nicht immer und bei weitem nicht für jeden eine Rolle im Alltag der Einrichtungen. Vor allem Nichtmuslim*innen bekämen oft gar nicht mit, dass ihre Schule oder Uni von Anhänger*innen der Lehren Gülens betrieben werden. „An der Schule in Tansania, an der ich geforscht habe, wurde darauf geachtet, nichtmuslimischen Schülerinnen eher allgemeine Werte zu vermitteln. Nur bei den muslimischen Schülerinnen flossen im Rahmen der islamischen Bildung für sie am Nachmittag zum Teil Ideen von Gülen ein“, so Kristina Dohrns Eindruck.

 

„Von einer Bekehrung kann nicht immer die Rede sein“

 

Weiterhin beobachtete sie, dass die Lehren Gülens nicht offizieller Teil des Unterrichts sind, sondern auf informelle Art weitergegeben werden. „An der Schule in Tansania fanden im Nachmittagsbereich sogenannte Tee-Programme statt, in denen moralische Werte weitergegeben werden sollten. Dort haben sich die Schülerinnen im kleinen Kreis unter der Anleitung einer Gülen-inspirierten Lehrerin getroffen und in den Gruppen mit muslimischen Schülerinnen wurden unter anderem Gülens Texte gelesen.  Die Lehrerin hat dann die Bedeutung der Texte ausgeführt, was wichtig ist, welche moralischen Verhaltensweisen oder Attribute man pflegen sollte. In religiös gemischten Gruppen ging es hingegen um allgemeine Werte, ohne dass diese mit einem islamischen Hintergrund verbunden  wurden“.

Die für Gülen so wichtige moralische Erziehung  steht also nicht auf dem Lehrplan, kann aber im Nachmittagsbereich  in die Bildung der Schülerinnen einfließen. Daher wäre es übertrieben zu sagen, dass die Gülen-Schulen reine Rekrutierungsorte für die Bewegung sind. Die islamische Bildung ist nach Einschätzung der Wissenschaftlerin recht allgemein und unterscheidet sich kaum von muslimischen Werten und Praktiken, die die jungen Muslima aus ihren Familien kennen. Außerdem stellt Kristina Dohrn fest: „Von einer Bekehrung zu den Ideen der Gülen-Bewegung kann nicht immer die Rede sein.  Viele Schülerinnen nehmen zwar an den Tee-Programmen  teil, sind sich aber gar nicht so bewusst, dass das etwas mit Gülen zu tun hat. Da wird auch nicht interveniert, wenn das dann nicht dazu führt, dass sich die Schülerinnen näher für Fethullah Gülen oder die Gülen-Bewegung interessieren“.

 

 

Zeigen sich die Schülerinnen aber interessiert, werden sie meist durch die Bindung an die Gülen-inspirierten Lehrerinnen weiter an die Bewegung herangeführt. „Bei  manchen ist es so, dass sich durch das enge persönliche Verhältnis zu der Lehrerin die Biographie entsprechend entwickelt. Sie werden dann häufig näher an Ideale und Praktiken der Gülen-Bewegung herangeführt. Einige möchten dann später Lehramt studieren und bekommen hierfür ein Stipendium von der Bewegung. In der Zukunft stellen sie sich vor, an einer Gülen-inspirierten Schule zu arbeiten“.

Diese Stipendien führten die Absolvent*innen von Gülen-inspirierten Schulen dann meist in die Türkei – Zum Beispiel an die Fatih Üniversitesi. Doch wo ich als nicht-muslimische Ersamusstudentin eine türkische Privatuni mit schönem Campus sah, blickten einige  Gülen-Stipendiatinnen aus Tansania wohl hinter den offiziellen Unibetrieb.  Während ich nach meinen Vorlesungen den Bus zurück ins Zentrum von Istanbul nahm, wohnten viele meiner Mitstudierenden in Wohnheimen und Gülen-WGs mit strengen Regeln. In diesen WGs trägt eine „Abla“ oder ein „Abi“ – Türkisch für große Schwester oder großer Bruder – die Verantwortung für die Mitbewohner*innen. Sie oder er sorgt dafür, dass alle zu einer bestimmten Uhrzeit nachhause kommen, die Pflichtgebete einhalten und an den wöchentlichen Gesprächskreisen teilnehmen, in denen die Bücher und wöchentlichen Predigten Fetullah Gülens studiert werden.

 

„Es ist, als seist du hypnotisiert“

 

Niemand zwinge einen dazu, die Regeln in den Gülen-WGs zu befolgen, meint Ali (Name von der Radaktion geändert), „es ist mehr wie soft power“. Der 29-Jährige aus religiöser Familie hatte bereits als Jugendlicher in einem von Gülen-Anhänger*innen betriebenen Wohnheim für Schüler in seiner Heimatstadt im Nordwesten der Türkei gelebt. Während seiner Studienzeit stieg er dann selber zum „Abi“ auf und kümmerte sich um fünf gleichaltrige Studenten, die mit ihm zusammen wohnten. Rückblickend empfindet er die Bewegung und das Leben in der WG als sehr hierarchisch. „Das erste was du lernst, ist zu gehorchen. Sie haben eine große Hierarchie und an ihrer Spitze steht Gülen. Wenn du dich gut verhältst und die Regeln beachtest, kannst du in der Hierarchie aufsteigen.“ Als er selber als „Abi“ in der Hierarchie weiter oben stand, beschränkten sich seine sozialen Kontakte weitgehend auf andere Mitglieder*innen der Bewegung, erinnert sich Ali. „Es ist, als seist du hypnotisiert. Du glaubst, er [Fetullah Gülen, Anmerkung der Redaktion] sei heilig“. Als er schließlich nach und nach aus der Bewegung ausstieg empfand er das als große Erleichterung. „Ich habe den engen Kreis durchbrochen und eine neue Welt kennen gelernt“.

Wie sind die Gülen-Bewegung und besonders ihre Bildungseinrichtungen also einzuschätzen? Handelt es sich, wie Ali es empfindet, um eine streng hierarchische Sekte, die versucht, Kinder und Jugendliche durch Moralunterricht subtil zu beeinflussen? Oder ist die Gülen-Bewegung eine fortschrittliche islamische Bewegung, die die Welt mit Bildung und Moral verbessert, wie es in den Selbstbeschreibungen der Bewegung klingt? „Ich denke, es ist auf jeden Fall eine Bewegung mit einer strengen Hierarchie, die versucht durch moralische Bildung Personen zu beeinflussen“, so lautet Kristina Dohrns Bilanz. Außerdem habe sich die Bewegung mit mangelnder Transparenz nach außen selbst geschadet. „Es gibt bestimmte Themen, die die Bewegung bewusst nicht in der Öffentlichkeit artikuliert hat, wie zum Beispiel die innere Hierarchie und Vernetzung. Das wird in den Medien jetzt sehr polarisierend dargestellt.“

Die türkische Regierung ist bei ihrer Einschätzung der Gülen-Bewegung weniger abwägend. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli begann eine Welle der Repressionen gegen die angeblichen Putschist*innen der Bewegung. Ali findet diese Repressionen unverhältnismäßig. Die meisten der Menschen, die verhaftet würden, seien völlig unschuldig und hätten zum Beispiel lediglich ein Buch Gülens in ihrem Regal stehen. Das reicht manchmal aber schon, um als Teil einer terroristischen Vereinigung, zu der die Bewegung von der türkischen Regierung kurzerhand erklärt wurde, verhaftet zu werden. Auch einigen meiner ehemaligen Dozierenden wird es wohl so ergangen sein. Meine Ex-Mitstudierenden wurden nach der Schließung anderen Universitäten zugeteilt oder zurück in ihre Heimatländer geschickt. Haben wir an einer terroristischen Uni studiert? Wohl kaum. Bin ich Teil einer goldenen Generation geworden? Leider nicht. Hauptsächlich habe ich auf einem schönen Campus mit netten Menschen Tee getrunken.