„Driving home for christmas“ – eine Ode an das Zugfahren

 

Die Freistuz-Redaktion wünscht euch Frohe Weihnachten!

 

Warum ich von einer goldenen Bahncard 100 träume, anstatt einer American Express.

Für mich sind Zugfahrten deutlich unterhaltsamer als jede unterdurchschnittliche amerikanische Sitcom. Denn die Protagonisten wechseln und stellen einen breiten Querschnitt durch die deutsche Durchschnittsgesellschaft dar. Erster ICE, ein Sechserabteil heute mit einem älteren Herrn, Nadelstreifanzug, der durch einen flauschigen Schal leger aufgelockert wird und, wie sollte es anders sein, sofort der Griff zur Zeitung. Mein erster Verdacht eines FAZ-Lesers wendet sich und die ZEIT wird großformatig über dem Tisch ausgebreitet. Sogleich beginnt er ein Gespräch über das erste Thema, das in einem Zug immer zieht: Bahnstreik. Unser Zug wäre Montag wohl nicht gefahren, weil da eben genau dieser Zug ausgefallen sei. Nicht sehr verwunderlich, sind doch ungefähr alle Züge am Montag ausgefallen. Der guten Atmosphäre wegen sodann die nächste Frage wohin wir denn führen. Deutsche Städtenamen purzeln durchs Abteil. Nach weiterem Geplänkel geht ein jeder seiner Beschäftigung nach. Jemand klappt einen Laptop auf und emsig wird ein niedlicher Strickpulli vollendet. Die Studentin selbst liest fleißig ihren Text über „cultural representation in a postcolonial context“. Die Konzentration leidet, ist die „cultural representation of everyday train life“ doch so viel spannender. Von Zeit zu Zeit dringt das Gegröle der bereits um 10 Uhr früh gut gestimmten Fußballfans vom Zugabteil nebenan zu uns herüber. Trotz zahlreicher Bahnfahrten quer durch die Republik, bin ich mir immer noch nicht im Klaren darüber, was das kleinere Übel ist: Junggesellinnen mit goldenem Krönchen und pinken Kondomen, der Kegelverein auf Ausfahrt mit Sektfrühstück und Butterbrezeln oder eben jene Fußballfans, deren Lieder immerhin von kreativeren Reimen zeugen als Namika und Co.

Mannheim. Hauptbahnhof. Einmal umsteigen. Nun im Großraumabteil werden meine persönlichen analogen Netflix-Charaktere erweitert. Ich darf vorstellen: gegenüber von mir eine Dame mittleren Alters, die mindestens so viel positive Vibes verbreitet wie Bob Marley selbst. Wäre sie nicht aus Mannheim, wie sie mir sogleich erzählt, könnte sie ein Freiburger Original direkt aus dem Vauban sein. Mein persönliches I-Tüpfelchen, das mir sogleich ein Lächeln aufs Gesicht legt, ihre Bauchtasche im Ethno Print. Wie sich kurz darauf herausstellen wird, befindet sich in jener weder Drehzeug noch Gras, sondern schlicht ihre Fahrkarte.

Mainz. Die Karten werden neu gemischt und ein Menschenstrom fließt ins Abteil. Er droht doch zugleich zu stocken, versucht eine Familie ihre zahlreichen Koffer in die Gepäckablage zu manövrieren. Nachdem ihre Koffer nach einem langen Kampf mit der so unglaublich praktikablen und breiten Kofferablage endlich wie sie selbst auch ordentlich verstaut sind, wartet ein weiterer Zugklassiker: Die Anzeige der Sitzplatzreservierung ist nicht intakt und die Familie zieht weiter. Jackpot: die nun minder gut gelaunte Familie verlagert ihren Lebensmittelpunkt in mein Viererabteil. Sodann lerne ich meinen neuen Lieblingsdiss unter 10 Jährigen: „Du bist so schlau wie Schlumpf“. Nur die Mutter ist nicht so von den sprachlichen Schöpfungen ihrer Sprösslinge angetan: „Lern erst mal deine Muttersprache“ ist ihre erste Reaktion auf den verunglückten Anglizismus bei ihrem Scrabble-Kartenspiel.

Uns gegenüber hat sich ein Literaturzirkel gegründet. Ausgehend von dem Kriminalroman, den eine der Frauen vor sich abgelegt hat, zu meinem Bedauern, eiskalt des Buchs Rückgrat gebrochen, schmerzverzerrt zeichnen sich die Falzlinien des Taschenbuchs auf dessen Rücken ab – werden unterschiedliche Buchempfehlungen, alle im Krimi Genre angesiedelt, ausgetauscht. Schnell geht es um den unheimlichen Spannungsgrad der Nachmittagsthriller. Die Diskussion mündet in der Beichte einer der Damen, dass sie zuerst den Schluss überfliegen müsse. Doch anstatt den Mittelteil des Buches zu lesen, entspringt ein Gespräch über Ziel und Herkunftsorte der Beteiligten. Die Leseratten verwandeln sich in tapfere Lokalpatrioten. Nun geht es um die verborgene Schönheit von Koblenz und die unbekannten Reize der Schwäbischen Alb. Ein jeder NDR „Deutschlands geheime Schätze“-Zuschauer wäre restlos begeistert. Als sich in Köln HBF die so spontan gegründete Gesprächsrunde auflöst, wünscht ein jeder noch eine Frohe Weihnacht und ein Gutes Neues Jahr. Eine kurze Begegnung, ein einfacher Gruß und doch findet sich hier jenes kleine Glück des Alltags, das Kalendersprüche geschmückt mit Katzen in Kochtöpfen und Facebook-Memes mit Sonnenuntergang in der Karibik propagieren und das im hier und jetzt des ICE 4231 Realität wird. Und deshalb werde ich auch weiterhin trotz aller ausfallenden Klimaanlagen im Sommer, falsch aneinandergereihten Wägen, verpassten Anschlusszügen und Störungen im Betriebsablauf fleißig Bahnbonus- statt Payback-Punkte sammeln und von einer Goldenen Bahncard 100 träumen.

 

 

 

 

 

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