Die Wut des Menschen ist unantastbar

Woher kommt sie, die Wut? Was bringt uns als Individuum immer und immer wieder dazu, sich über bestimmte Dinge oder Situationen aufzuregen? Was ist der Wutbürger wirklich und was sind seine historischen Vorbilder? Diesen und ähnlichen Fragen geht Hermann Schmidt-Rahmer in seiner Inszenierung von „Wut“ der österreichischen Meister-Dramaturgin Elfriede Jelinek auf den Grund.

Humor ist einer der wichtigsten Dinge, um negativen Emotionen entgegenzukommen und diese kurz- oder langfristig in den Schatten zu stellen. Genau diesem Element nimmt sich der Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in seiner knapp zweieinhalbstündigen Version von Jelineks „Wut“, worin die Österreicherin die Anschläge von Paris als Ausgangspunkt für ihren Text über Wut als Zerstörungsmotor wählt, an und stellt dem Zuschauer die Frage, ob dies wirklich der richtige Weg ist, diese doch hochaktuelle Emotion dauerhaft zu unterdrücken. Dabei ist es vorweg wichtig zu erwähnen, dass Jelinek in ihrer Erzählung bewusst keine namentlichen Figuren hat, um somit dem Publikum bzw. Leser das Gefühl zu geben, sich in diese hineinzuversetzen. Gerade wenn man diesen Aspekt berücksichtigt, so gelingt es Schmidt-Rahmer meisterhaft, durch Einblendungen aktueller Ereignisse sowie fesselnde Dia- wie Monologe den Zuschauer selbst Teil der Inszenierung werden zu lassen, ohne dass dieser in Wirklichkeit nicht auf der Bühne steht. Doch das braucht es auch nicht, da die Bilder, welche man von ihm und der Dramaturgin Laura Ellersdorfer auf der Leinwand sowie auf der Bühne durch die Schauspieler zu sehen bekommt, eine klare Sprache sprechen.

Das Stück wäre aber nicht so ausdrucksstark, wenn das Ensemble hier nicht auf schauspielerisch allerhöchstem Niveau agieren würde. Dies reicht von Victor Caleros sehr unterhaltsamen und bedrückendem Anfangsmonolog über die Magie und Kraft einer Schusswaffe sowie den markerschütternden und realitätsnahen Monolog von Anja Schweitzer über den Wutbürger in uns. Man könnte hier noch duzende von Beispielen aufzählen, um die großartige Cast-Auswahl von Schmidt-Rahmer und Ellersdorfer zu würdigen, doch würde dies den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ein Alleinstellungsmerkmal in dieser Inszenierung ist zweifellos der historische Einfluss sowie die Rückführung des Wutbegriffes auf die Herakles-Tragödie von Euripides, in der der Protagonist selbst nach der Erfüllung seiner zwölf Heldentaten am Tage seiner Hochzeit unter großem Wahn seine Familie kaltblütig ermordet. Dies wird hier clever dadurch dargestellt, indem man den Zuschauer mit Hilfe einer am Gewehr befestigten GoPro-Kamera in das Haus mitnimmt, wo die Familie schon angsterfüllt ihrem Schicksal ausgesetzt ist. Den Mord selbst jedoch nicht zu zeigen, sondern den Protagonisten wie in einem Terroristen-Video mit seinem Gewehr sitzend einen Monolog über seinen unvorhersehbaren Wutausbruch halten zu lassen, ist perfekt umgesetzt. Sie schafft eine starke Überleitung zu aktuellen Ereignissen wie dem Anschlag im neuseeländischen Christchurch sowie der Inszenierung Björn Höcke seiner selbst.

Einer der Gründe, warum dieses Stück schauspielerisch funktioniert: Anja Schweitzer

Um nun auf diese Selbstinszenierung zu sprechen zu kommen, so wurde sie genial als eine Art Sitcom mit Dialogen zu diesem Thema vorgeführt, sodass es fast schon ein wenig den Charakter von „Two and a half men“ oder „Eine schrecklich nette Familie“ hatte und man mit Björn Höcke (hier großartig von Martin Hohner gespielt) lachen musste. Das i-Tüpfelchen auf diese Parodie war die Rede von AfD-Parteiphilosoph Marc Jongen, der bildlich gesehen auf der einen Seite von Schweitzer wutentbrannt kritisiert und von Calero in Gebärdensprache sehr unterhaltsam persifliert wird. Im Wutbürger-Monolog von Anja Schweitzer hat man als Filmliebhaber sofort die aktuellen Streifen „Joker“ von Todd Phillips sowie den diesjährigen Cannes-Gewinner „Parasite“ von Bong Joon-ho im Kopf, so kann man in beiden Fällen und im Falle von Schmidt-Rahmers Inszenierung die Wut als einen Parasiten oder auch Underdog bezeichnen, der sich in den letzten Jahren und Jahrhunderten heimlich, still und leise an die Spitze der Gesellschaft gemausert und dadurch viele gesellschaftskritische Bürger in seinen Bann gezogen hat. Allgemein ist es ohne vorherige Kenntnis von Jelineks Text keine Schande, sich diese beiden Filme im Vorfeld zum Stück einmal anzusehen, um sich dann während des Stückes selbst in den meisten Punkten durch den Text und die Filme bestätigt zu fühlen. Sobald man das Stück verlässt, und auch das ist einer der erkennbaren Motive bei Schmidt-Rahmer, hat man ein stark zwiegespaltenes Gefühl was die Thematik der Wut sowie die der Wutbürger in unserer heutigen Gesellschaft angeht. Einerseits möchte man gleich selbst zum Wutbürger mutieren und die Ansichten der namenlosen Figuren sofort nach außen hin teilen. Andererseits jedoch bekommt man auch das Gefühl, das Wut allgemein nicht immer eine gute Lösung darstellt, um Konflikte in unserer heurigen Alltagswelt zu lösen – weder in der Politik noch sonst wo! Wut ist übertragbar, und je schneller dieser Parasit an eigentlich normale Bürger übertragen wird, desto rapider steigt das Wut- und Wahnniveau auf der Welt an. Dagegen ein Zeichen zu setzen ist eine von vielen Botschaften in dieser herausragenden sowie für das Freiburger Theater einzigartigen Umsetzung von Jelineks literarischem Wutausbruch, welches nach erstmaligem Besuch noch lange im Gedächtnis des Zuschauers bleiben wird.

 

Weitere Termine für „Wut“ am Theater Freiburg: 31.10.19 / 02.11.19 / 08.11.19 / 10.11.19 / 15.11.19 / 17.11.19 / 12.12.19 / 14.12.19 / 17.12.19 / 27.12.19 / 11.01.20 / 12.02.20 / 19.02.20