Das Leben zieht nicht spurlos an einem vorbei, sagen sie…

Was passiert wirklich mit einem Menschen, wenn er stirbt? Wieviel bekommt er noch von dem mit, was gerade passiert und welchen Einfluss könnte er noch darauf haben? Genau diesen Fragen geht Simon Stephens mit seinem Stück „Am Ende Licht“ nach, welches gestern unter der Regie von Intendant Peter Carp seine Premiere am Theater Freiburg feierte.

Christine möchte eigentlich nur nach einer Flasche Wodka greifen, als es passiert. Sie fällt zu Boden und stirbt unmittelbar an einer Hirnblutung. Doch so richtig tot scheint sie noch nicht zu sein, so beobachtet sie während des Sterbeprozesses den Alltag ihrer drei Kinder Steven, Ashe und Jess sowie den ihres Mannes Bernard. Dass sie tot ist, wissen die vier zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und doch muss Christine tatenlos mit ansehen, welche Querelen sie durchleben und wie hilflos sie in manchen Momenten sind. Bernard bucht nach einem launigen Abend mit seiner Geliebten Michaela und deren Freundin Emma ein Hotelzimmer, um sich mit den beiden zu vergnügen. Der jüngste Sohn Steven jedoch hat Angst, zur Unzufriedenheit seines Vaters sein Jurastudium abzubrechen und verbringt den Tag mit seinem älteren Freund Andy, den er nicht verlieren will. Christines älteste Tochter Jess wacht nach einer sehr durchzechten Nacht neben einem Mann auf, dessen Namen sie nicht mehr weiß und beschließt, mit ihm den Tag zu verbringen. Und dann ist da noch die jüngste der drei Geschwister, Ashe, die sich mit ihrem Ex-Freund Joe um den Unterhalt ihres zweijährigen Sohnes streitet und kurz zuvor einen Suizidversuch unternommen hat.

Dramaturgische Gleichzeitigkeit in Perfektion

Simon Stephens gilt als einer der bedeutendsten britischen Dramatiker der Moderne. Den aktuellsten Beweis liefert er mit „Am Ende Licht“, in dem die Protagonistin mit weiterem Verlauf des Stückes merkt, dass die Zeit einfach nicht voranschreiten mag. Den Einfluss, den sie auf ihre vier Familienmitglieder hatte, kann sie nicht mehr rückgängig machen. Dabei gelingt es Regisseur Peter Carp und Bühnenbildner Kaspar Zwimpfer mit einer dramaturgischen Gleichzeitigkeit, im Moment von Christines Tod das Leben ihrer Angehörigen durch ein unsichtbares Netz miteinander zu verbinden. In diesen Augenblicken, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Tages gleichzeitig abspielen, ist Christine immer präsent. Stephens schafft es damit, das Stück in der Tradition der Ghost Stories der englischen Gothic Novel zu erzählen. Er verzichtet hierbei jedoch vollständig auf Schauerelemente, um Christine als poetische Intervention in den Szenen ihrer Familienmitglieder wiederkehren zu lassen. Dadurch wird die Geschichte für das Publikum umso greifbarer und näher am Leben wie es selten ein Stück am Theater Freiburg bisher geschafft hat. Dies hat auch den Hintergrund, dass Stephens selbst seine Stücke meist für bestimmte Theaterhäuser und deren kulturellen wie sozialen Kontext schreibt und dabei eng mit den RegisseurInnen, SchauspielerInnen und ChoreographInnen zusammenarbeitet. Dabei werden die Texte stets an das jeweilige Bühnengeschehen angepasst, was in der Freiburger Inszenierung besonders zur Geltung kommt.

Sticht aus dem herausragenden Ensemble besonders heraus: Gioia Osthoff als Jess / Foto: Britt Schilling

Figuren wie du und ich

Die Heimat von Stephens hat ihn schon immer beim Schreiben seiner Stücke beeinflusst, so durchdringt die nordenglische Landschaft mit ihrer Mystik und dem oft nasskalten Wetter als emotionale Metapher die Dialoge seiner Figuren. Dies ist auch in „Am Ende Licht“ der Fall, in dem die Charaktere dem realen Leben entstammen und somit Geschichten erzählen, die Menschen wie uns genauso passieren könnten. Sie sind, so Stephens, „aus dem Leben gegriffen“. Die Schauplätze, an denen sich die Figuren im Laufe des Stückes aufhalten, wie beispielsweise die Kathedrale in Durham, das Salutation Pub in Doncaster oder der Coop Supermarkt in Stockport, in dem Christine stirbt, sind dies auch. Das psychologische Reichtum dieser Figuren wird eindrucksvoll vom Freiburger Ensemble eingefangen. Hierbei stechen allen voran Michael Witte als Bernard, Raban Bieling als Steven und Gioia Osthoff als Ashe hervor. Ihre Darstellungen lassen am besten erkennen, wie schwierig es in ihren Situationen ist, den Spagat zwischen Leichtigkeit und Unsicherheit im Leben zu meistern. Dies ist am eindringlichsten im finalen Akt zu beobachten, in dem den Familienmitgliedern das Schicksal von Christine bewusst wird. Man spürt förmlich, dass in ihnen nur noch Zerbrechlichkeit vorhanden ist und begreift, wie wichtig dieser Mensch für sie trotz aller Ignoranz ihr gegenüber in den letzten Momenten des vergangenen Tages war. In diesem Moment wirkt der Satz „Schau mir in die Augen und sag mir, dass du mich nie verlässt“, den Steven gegenüber Andy nach der Pause äußert, wie ein hoffnungsvoller Wunsch der weiteren Protagonisten, da Christine zwar nicht mehr unter ihnen ist, sie sie jedoch im Herzen und Geiste ab sofort nie mehr verlassen kann. Der letzte Akt zeigt auch, dass es für Stephens unzulässig ist, seine Figuren in solchen Momenten alleine zurückzulassen und dass die Angst davor, verlassen zu werden und allein zu sein, als Trauma der eigenen Lebensgeschichte besiegt werden kann. Dies wird am schönsten verbildlicht durch den Augenblick, in dem Ashe ihrer (un)toten Mutter begegnet und diese ihr sagt: „Du musst nur wissen, dass ich da bin.“

„Am Ende Licht“ läuft noch am 23.02., 24.02. und 05.03.2022 im Kleinen Haus des Theater Freiburg. Tickets und Infos zum aktuell geltenden Hygienekonzept findet ihr auf der Homepage des Theaters.